23. November 2024 – Demenz reduzieren die meisten Menschen auf das Symptom Vergesslichkeit. Doch das Krankheitsbild ist weitaus vielschichtiger. Nur wenige wissen: Symptome wie Aggressivität, Verlust motorischer Fähigkeiten, Inkontinenz, Depressionen und Verwirrtheit gehören ebenfalls dazu. Daher fühlen sich Betroffene und vor allem ihre Angehörigen oftmals alleingelassen. Im Angesicht dieser lebenseinschneidenden Diagnose wissen sie schlichtweg nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Wer früh handelt, kann viel bewirken!
Klaus Fließbach und Katrin Wolf wollen deshalb mit ihrem neuen Buch „Demenz. Nicht Jetzt!“, Stiftung Warentest, aufklären. Sie führen die vielen weiteren Anzeichen auf, die im Frühstadium manchmal übersehen werden. Sie sprechen über Tests, die man zum ersten Abchecken durchführen kann. Insbesondere aber machen sie Hoffnung. Denn Demenz müsse man nicht einfach hinnehmen, sagen sie: „Wer früh handelt, kann viel bewirken!“
Das Interview mit Prof. Dr. Klaus Fließbach
CarpeGusta: Warum ist die Früherkennung von Demenz so entscheidend für ihren Verlauf?
Prof. Dr. Klaus Fließbach: Demenzen gehen in den allermeisten Fällen auf sogenannte neurodegenerative Erkrankungen zurück. Dabei spielen krankhafte Eiweißablagerungen im Gehirn eine Rolle, die zum Absterben von Nervenzellen führen. Bis vor Kurzem hatten wir dagegen keine Behandlungen, die diese Prozesse ursächlich behandeln. Seit Kurzem haben wir bei der Alzheimer-Krankheit als der häufigsten Demenzursache Antikörperbehandlungen, die in diese Prozesse eingreifen. Diese aber müssen so früh wie möglich begonnen werden, um möglichst gut zu wirken. Außerdem ist es wichtig, andere Krankheiten auszuschließen, die behandelbar sind, wie Vitaminmangelerscheinungen, Schilddrüsenfehlfunktionen oder Elektrolytstörungen. Aber auch wenn es keine ursächlich behandelbare Ursache gibt: Eine frühzeitige Diagnose hilft, medikamentöse und nichtmedikamentöse Maßnahmen zu initiieren, die umso besser wirken, je früher man sie einsetzt. Und oft beseitigt eine frühzeitige Diagnose Unsicherheiten und hilft, wichtige Entscheidungen für die weitere Lebensplanung anzugehen.
Gibt es denn wirklich eine neue Methode, Demenz frühzeitig anhand spezieller Untersuchungen zu diagnostizieren?
Zunächst lässt sich eine Demenz alleine aufgrund einer ausführlichen neurologischen und psychiatrischen Untersuchung und einer neuropsychologischen Untersuchung belegen. Die weiteren Untersuchungen dienen dazu, die Ursache der Demenz zu bestimmen. Bei der Alzheimer-Krankheit kann man das recht zuverlässig anhand bestimmter Werte im „Nervenwasser“ erreichen. Das ist die Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark umgibt und die relativ einfach über eine Lumbalpunktion gewonnen werden kann. Außerdem gibt es nuklearmedizinische Verfahren wie die Positronen-Emmissions-Tomografie, die die Eiweißablagerungen bei der Alzheimer-Krankheit sichtbar machen können. Diese sind aber teuer und werden von den gesetzlichen Krankenkassen bisher nicht bezahlt. Inzwischen gibt es auch vielversprechende Bluttests zur Alzheimer-Diagnose. Bei anderen Demenzformen sind solche „Biomarker“, die Aufschluss über die genaue Hirnpathologie geben, noch nicht verfügbar. Aber die Forschung arbeitet daran mit Hochdruck, da das die Grundlage für ursächliche Behandlungen darstellt.
In den meisten Fällen gibt es zwar eine genetische Komponente und das Risiko für eine Alzheimer-Krankheit nimmt zu, wenn man erstgradige Angehörige und Verwandte mit der Erkrankung hat. Hier liegt die Erblichkeit aber in der Größenordnung anderer „Volkskrankheiten“ wie dem Diabetes mellitus oder dem Bluthochdruck. Bei den sogenannten frontotemporalen Demenzen ist dies anders. Hier liegen in zehn bis 20 Prozent der Fälle „echte“ genetische Erkrankungen vor, bei denen das Risiko der Übertragung auf die nachfolgende Generation 50 Prozent beträgt. Zum Glück sind diese Demenzformen aber selten.
Was sollte im Abschluss an die schockierende Diagnose einer Demenz erfolgen?
Zunächst einmal: Ruhe bewahren! Die Diagnose bedeutet nicht, dass alles sofort „den Bach runtergeht“. Suchen Sie Ärzte auf, zu denen Sie Vertrauen haben und die Sie in Bezug auf die Behandlungsmöglichkeiten beraten können und die sie langfristig betreuen. Eine spezialisierte Ambulanz für Demenzerkerkrangen ist hilfreich; aber auch viele Hausärzte oder nervenärztliche Fachärzte wie für Psychiatrie und/oder Neurologie können dies leisten. Vertrauen Sie sich Ihren Angehörigen und Freunden an. Demenz kann jede und jeden betreffen. Es gibt keinen Grund für Scham, auch wenn diese verständlicherweise oft auftritt.
Wie kann ein an Demenz Erkrankter länger seine geistige Leistungsfähigkeit erhalten?
Es gibt für die Alzheimer-Krankheit bereits Medikamente, die auch bei anderen Demenzformen nützlich sein können. Wie eben schon dargestellt gibt es demnächst auch die Möglichkeit, die krankhaften Hirnveränderungen ursächlich zu behandeln. Darüber hinaus ist die Aufrechterhaltung der körperlichen Fitness mit all ihren Komponenten wie Ausdauer, Bewegung, Koordination und Muskelkraft ein wesentlicher Faktor zur Aufrechterhaltung auch der geistigen Fitness. Soziale Interaktionen stimulieren das Gehirn ungemein. Und: Neugierig bleiben, Reisen und neue Erfahrungen machen – all das geht zumindest mit einer leichten Demenz. Für die Förderung dieser Aspekte gibt es natürlich auch professionelle Angebote: Physiotherapie, Ergotherapie, kognitives Training. Aber diese sollten stets dazu stimulieren, auch außerhalb der eigentlichen Therapiesitzungen aktiv zu sein.
Spielt auch die körperliche Fitness für den Erhalt der geistigen Leistungsfähigkeit eine Rolle?
Unbedingt! Es gibt eine Reihe von Forschungsergebnissen, die das belegen. Zunächst stärkt körperliches Training die Herz-Kreislauf-Funktionen. Dadurch wirkt es sich stets positiv auf neurodegenerative Erkrankungen aus – möglicherweise, indem der Abtransport schädlicher Eiweiße aus dem Gehirn dadurch gefördert wird. Und es gibt noch eine Reihe von anderen Mechanismen, mit denen körperliche Fitness die geistige Fitness begünstigt. Beispielsweise bildet die Muskulatur einen Wachstumsfaktor für Nervenzellen.
Wie wichtig ist beim kontinuierlichen Vergessen die emotionale und körperliche Nähe zu anderen Menschen?
Immens! Wenn ich gesagt habe, dass soziale Interaktion eine wichtige Rolle zur Aufrechterhaltung der Kognition und des Wohlbefindens spielt, ist damit auch körperliche Nähe gemeint, die natürlich umso wichtiger wird, je mehr die Demenz voranschreitet und die verbale Kommunikation erschwert. Ich habe viele Beispiele erlebt, bei denen Patienten und Angehörige trotz einer weit fortgeschrittenen Demenz noch einen starken nonverbalen „Draht zueinander“ haben.
Wie können sich pflegende Angehörige vor zu großer Belastung schützen?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich habe zu Beginn meiner Tätigkeit mit Demenzpatienten und ihren Angehörigen nicht verstanden, wie groß die Belastung der Angehörigen ist. Die Angehörigen möchten sich das oft selbst nicht eingestehen, auch nicht den Ärzten und Therapeuten oder ihren Freunden und anderen Angehörigen gegenüber. Pflegende Angehörige sollten sich selbst häufiger fragen: „Wie geht es mir dabei?“ Das ist oft der erste Schritt, um zu überlegen, wie Entlastung geschaffen werden kann. Natürlich gibt es hier professionelle Angebote wie Demenzbegleiter oder Tagespflegeeinrichtungen. Aber auch die Übernahme einer Betreuung für wenige Stunden durch Familienmitglieder, Nachbarn oder Freunde kann immens helfen.
Herr Prof. Dr. Fließbach, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Klappentext „Demenz nicht jetzt!“:
Demenz ist vor allem im Frühstadium schwer zu diagnostizieren, weil die Symptome häufig denen anderer Krankheiten ähneln. Bei der häufigsten Demenzform der Alzheimerkrankheit ist fast immer die Gedächtnisleistung beeinträchtigt. Ein Heilmittel für die neurodegenerative Erkrankung gibt es bisher nicht, Verbesserungen des Ist-Zustandes sind aber in jedem, insbesondere im frühen Stadium möglich.
Der renommierte Demenzexperte Professor Dr. med. Klaus Fließbach bietet in diesem Handbuch eine klare Hilfe für den Umgang mit der Diagnose. So erhalten Sie im Leitfaden konkrete Beispiele für Gedächtnistrainings, neue Therapieansätze sowie kreative Aktivitäten, mit denen die kognitive Leistungsfähigkeit lange erhalten bleibt und der Alltag selbstständig gemeistert werden kann. Außerdem erfahren Sie, wie Antidementiva, Ginkgo biloba oder die neuen Antikörper der Gesundheit beitragen, aber auch wie nicht medikamentöse Therapien und gesunde Ernährung helfen können.
Nicht zuletzt lernen Sie in diesem Demenzratgeber, wie es gelingt, das Leben zwischen Verantwortung, Zuneigung, Trauer und Überforderung neu auszurichten und professionelle Unterstützung anzunehmen.
Über die Autoren:
Dr. Klaus Fließbach ist Facharzt für Neurologie sowie Psychiatrie und Psychotherapie. 2012 habilitierte er sich im Bereich „Kognitive Neurowissenschaften“ und wurde 2020 zum außerordentlichen Professor ernannt. Seit 2012 arbeitet er in der Gedächtnisambulanz des Universitätsklinikums Bonn (UKB), seit 2015 in leitender Position, und als Oberarzt in der Klinik für Alterspsychiatrie und kognitive Störungen des UKB.
Dr. Katrin Wolf ist Diplomchemikerin und Humanmedizinerin. Seit 2007 arbeitet sie als freie Redakteurin und Medical Writerin für medizinische Zeitschriften, Fachverlage und Agenturen. Von 1997 bis 2007 war sie Chefredakteurin der Zeitschrift „psychoNeuro und Pharma Fokus ZNS“. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Psychiatrie und Neurologie sowie in den Fachgebieten Schmerzmedizin und Schlafstörungen.